
Tiefer Winter, Schnee liegt in München noch nicht, kalt ist es trotzdem und in einem kleinen warmen Antiquariat finde ich einen kleinen Schatz! Ein leeres Kuvert mit dem Wort „Kunstmalerin“. Besser noch: im gleichen Fundus befinden sich drei weitere Briefe aus Norwegen an die gleiche Künstlerin – mit Inhalt!
Von Klothilde Tschuppik hatte ich bis dato noch nichts gehört. Auch das Internet bringt auf den ersten Blick nicht mehr als ihre Lebensdaten (1865–1926) zu Tage. Nun gut, erstmal lesen, was die gut 40jährige Künstlerin für Briefe erhielt: „Ich küsse dich Tag und Nacht dein Mund und deine Augen und dein Haar und – und – und – dich ganz und gar. Adiö du Liebste, ich werde dich bald wieder schreiben. Dein OS.“


So schreiben sonst nur frisch Verliebte, da erlebt wohl jemand seinen zweiten Frühling! Und zwar per Fernbeziehung, denn O. S. schreibt aus Kristiania (heute Oslo) und Lysaker. Letzteren Ort kannte ich noch nicht, aber Wikipedia hilft weiter: „Um 1900 lebten in Lysaker einige Künstler und Wissenschaftler, die Teil des sogenannten Lysakerkretsen (deutsch: Lysakerkreis) wurden.“
Klothilde erhält in den Briefen auch ganz konkrete künstlerische Anweisungen, wie sie das Porträt ihres Sohnes Heinrich zu großem Glanz bringen kann, sodass es einst im Foyer eines Opernhauses Platz finden könne. Wir erfahren, dass sie am 16. Oktober 1904 ein neues Atelier bezieht und für ihren Liebhaber ebenfalls ein Atelier in München auftreiben soll.
Ob das beschriebene Porträt von Heinrich wirklich ausgeführt wurde und heute noch existiert konnte ich nicht in Erfahrung bringen. Zum Vergleich sei hier aber nebenstehendes Porträt eines unbekannten Mädchens gezeigt, das ebenfalls Klothildes Pinsel entsprungen ist. Heinrich – so heißt es in den Briefen übrigens weiter – sollte Kapellmeister werden, studiert fleißig Notenlehre und freut sich darauf mit O. S. vierhändig Klavier zu spielen.
Wer ist denn nun dieser O. S.? Scheinbar wird dies absichtlich verschleiert, so antizipiert der Absender, dass seine häufigen Briefsendungen an Klothilde bei ihr zu Hause zu große Aufmerksamkeit generieren könnten. Vermutlich gehen aus diesem Grund die Briefe von 1904 auch an die Pension Lorenz in der Sophienstraße, obwohl Klothilde laut Adressbuch zu München einen festen Wohnsitz in der Schwanthalerstraße 32 besaß.
Die Lösung des Rätsels brachten mir Einträge einschlägiger Auktionshäuser, die Gemälde von Klothilde Tschuppik verkauften. Dort heißt es – nach Angabe des einliefernden Urenkels: „der norwegische Maler Otto Sinding war ihr Lebensgefährte.“ Wow, DER Otto Ludvig Sinding! Dieser hatte bereits beim Münchner Maler Carl von Piloty gelernt und weilte zeitweise immer wieder in München. Seit 1891 lebte er dann in Lysaker und lehrte seit 1903 als Professor an der Münchner Kunstakademie. Ein Jahr später findet der Briefwechsel statt. An der Akademie können sich die beiden übrigens nicht kennengelernt haben, dort war Frauen das Studium noch bis 1920 untersagt.
Nun wird aber auch eine gewisse Geheimniskrämerei verständlich, denn Otto war bereits seit den 1870ern mit Anna Christine Nielsen verheiratet und hatte mit ihr einen Sohn Sigmund. Dieser war ebenfalls Maler und wird in den Briefen erwähnt: Er besaß ein eigenes Atelier in Kristiania und arbeitete ebenfalls an einem Porträt, welches gerade zwischentrocknen musste.

Die Liaison war nicht zu Klothildes Nachteil, seit 1906 nahm sie mehrfach an Ausstellungen im Münchner Glaspalast teil: 1907 mit einem Stillleben, 1909 mit „Frauenkopf“ und „Hinten im Garten„. Die Beziehung hielt allerdings nicht mehr ewig, denn 1909 starb Sinding in München, genau in jenem Jahr, aus dem das Kuvert mit den grünen Germania-Briefmarken datiert.
Mir bleibt die Freude über eine Künstlerliebesgeschichte und zwei Autographen des großen Malers Otto Ludvig Sindings, auch wenn er in den beiden Briefen lediglich mit seinen Initialen unterschrieben hat.


